Jubiläumsfeier

Festvortrag von Dr. Bruno Schoch anlässlich des Festaktes zum 50. Jubiläum der HBS

Dr. Bruno Schoch:


Heinrich Böll: Ein politischer Schriftsteller

 

Festvortrag anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Heinrich-Böll-Schule Hattersheim (14.7.2022)

 

Sehr geehrte Honoratioren (verzeihen Sie diese Kollektivbezeichnung),

sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Schülerinnen und Schüler,

vielen Dank für die ehrenvolle Einladung, im Namen der Hessischen Heinrich Böll-Stiftung einige Gedanken zum Namensgeber dieser Schule vorzutragen. Ich schliesse mich den Glückwünschen der Vorredner zum Jubiläum an. Ich habe allerdings kein Geschenk, nur eine Rede – und die wird nun vielleicht nach diesem munteren Gesang etwas trocken ausfallen.

Sie wissen, dass hierzulande die Parteien parteinahe Stiftungen unterhalten. Diese sind mit recht viel Geld für politische Bildungsarbeit ausgestattet. Als sich in den 80er Jahren die Partei der Grünen herausbildete, suchte man nach einem Namen für ihre Stiftung. Warum gerade Heinrich Böll? Ich erinnere mich an die damaligen Debatten nicht mehr. Aber manches sprach für ihn – und manches an Heinrich Böll ist nach wie vor höchst aktuell. Die Erwartung des Herrn Rektors, die Frage zu beantworten, was alles veraltet und was alles noch aktuell ist an ihm, muss ich allerdings enttäuschen – das ist in 10 Minuten nicht zu machen.

Bekanntlich ist die Grüne Partei aus Protestbewegungen hervorgegangen: gegen Atomkraftwerke, für Umweltschutz, gegen die Startbahn West, und aus dem Protest der Friedensbewegung gegen eine sich ständig weiter drehende Rüstungsspirale. Der antiautoritäre, ja etwas anarchistiche Linkskatholizismus Bölls traf Gefühl und Selbstbewusstsein einer Generation, die nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess begann, das Schweigen über den Nationalsozialismus zu durchbrechen und bohrende Fragen zu stellen, wie die Verbrechen des Dritten Reichs möglich geworden waren.

Ich werde mich auf 6 Punkte des politischen Schriftstellers Heinrich Böll konzentrieren.

 

1. Heinrich Böll war der bekannteste deutsche Schriftsteller in der Nachkriegszeit, 1972 hat er als erster Deutscher nach 1945 den Nobelpreis für Literatur bekommen. Seine literarische Arbeit habe, heisst es in der Urkunde, „durch ihren zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit ihrer von sensiblem Einfühlungsvermögen geprägten Darstellungskunst erneuernd im Bereich der deutschen Literatur gewirkt.“ Rückblickend mag man über „den zeitgeschichtlichen Weitblick“ Bölls streiten. Aber seine sensible, in tiefer christlicher Nächstenliebe gründende Parteinahme für Aussenseiter, Arme, Underdogs und Displaced Persons steht ausser Frage. Heute benutzen manche – nicht zuletzt habe ich das von Schülern gehört – das Wort looser als Schimpfwort. Stattdessen brauchen wir moralische und materielle Solidarität mit ihnen. Unsere Welt ist aus den Fugen. Nur zwei Indikatoren: Ein Fünftel der Bevölkerung im reichen Hessen lebt in Armut, war vor kurzem zu lesen. Und die UNO meldet, dass es zur Zeit mehr als 100 Millionen Flüchtlinge auf der Welt gibt. Wir bräuchten viele, viele Bölls, um das anzuprangern.

 

2. Heinrich Böll hat sich zeitlebens der traditionellen Staatsvergottung widersetzt. Ebenso kritisch distanziert sah er auch seine Zugehörigkeit als Deutscher. 1974 hielt er in Jerusalem eine Rede zum Thema „Ich bin ein Deutscher“. Als er an die entscheidende Stelle kam, schuf er Abstand zu dem, was ihm fraglos das Heimatlichste an Deutschland war, nämlich zur deutschen Sprache. Er sagte übergangs- und kommentarlos:

„It was not very pleasant to be a German and it still not is.“

 

3. Heinrich Böll war ein politisch engagierter Schriftsteller, der sich der restaurativen Atmosphäre im Adenauer-Staat widersetzte. Früh ergriff er Partei für die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien (1954-1962). Ähnlich wie Jean-Paul Sartre verstand er seine Aufgabe als Intellektueller darin, gegen politische Fehlentwicklungen in Staat und Gesellschaft öffentlich Stellung zu beziehen – auch wenn er sich damit mitunter gegen die übergrosse Mehrheit positionierte. Dass es dabei auch zu Fehlurteilen kommen kann, nahm er in Kauf. Zuwider waren ihm Gleichgültigkeit und alles Wegsehen – auch das ist aktuell.

 

4. In den siebziger Jahren hat Heinrich Böll mit schonungsloser Verve die rechte Springer-Presse gebrandmarkt. Denn die hetzte gegen 1968 und den antiautoritären, linken Zeitgeist; und sie leugnete die DDR als Staat und denunzierte, heute vielfach vergessen, lange auch die Ostpolitik von Willy Brandt als „nationalen Verrat.“

Als eine kleine Gruppe Nach 68-er unter dem Namen „Rote Armee Fraktion“ oder „Bader-Meinhoff-Bande“ begann, die Bundesrepublik mit Gewalt herauszufordern, worauf der Staat mit aller Härte reagierte, versuchte Heinrich Böll in einem Essay im „Spiegel“ zu deeskalieren: „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Dieser Titel der Redaktion insinuierte eine geistige Nähe Heinrich Bölls zu Ulrike Meinhoff. Jetzt galt er in weiten Kreisen als „geistiger Sympathisant der Terroristen“. Das war er definitiv nie. Freilich enthielt sein Aufsatz Fehlurteile, etwa die Rede von einem „Krieg zwischen 6 und 60 Millionen“. Es kam zu einer Hausdurchsuchung bei ihm, konservative Medien betrieben eine regelrechte Hexenjagd gegen ihn. Das prangerte er 1972 heftig an:

„Überhaupt diese Gruppenbenennung: Sympathisanten, Helfershelfer, Humus, auf dem alles gewachsen ist. (…) Damit wird ein Klima der Denunziation geschaffen, in dem kein Intellektueller mehr arbeiten kann. Ich kann in diesem gegenwärtigen Hetzklima nicht arbeiten.“

Er schoss in seinem Essay weit über das Ziel hinaus, etwa mit der Feststellung:

„Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, das ist nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus, das ist Hetze, Lüge, Dreck.“

Ein krasses Fehlurteil. Aber man muss den zeitgeschichtlichen Kontext im Auge haben. Gerhard Baum, der links-liberale spätere Innenminister, hat dazu im Nachhinein gesagt:

„Alle, die versucht haben Brücken zu bauen, wie der Bischof Scharf in Berlin oder Heinrich Böll, wurden verunglimpft. Also der Staat hat im Grunde die Fassung verloren: Wir sind den Terroristen auf den Leim gegangen. Die wollten uns den Krieg erklären. Und wir haben die Kriegserklärung angenommen.“

Bölls Protest teilten seinerzeit viele kritische Jugendliche. „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ist deshalb wohl sein bekanntestes Werk. Es wurde ebenso wie der Film von Volker Schlöndorff weithin geschmäht als „Rechtfertigung des Terrors“.

 

5. Heinrich Böll war Pazifist. Das Foto, das ihn neben Petra Kelly und Oskar Lafontaine in Mutlangen in einer Sitzblockade gegen die Stationierung von Raketen zeigt, kennen Sie sicher. Auch den Pazifismus teilten viele Gründer der Grünen Partei. Heinrich Böll war im 2. Weltkrieg Soldat, diese bittere Erfahrung hat ihn zeitlebens geprägt. Als 24-Jähriger schrieb er 1941 an seine Frau:

Der Krieg, jeder Krieg ist ein Verbrechen … Ich hasse den Krieg, und alle diejenigen, die Freude an ihm finden, hasse ich noch mehr (…) Ich hasse ihn aus tiefster Seele, den Krieg und jedes Lied, jedes Wort, jede Geste, jeden, der irgendwie etwas anderes für den Krieg kennt als Hass. Er ist so völlig sinnlos, und die Politik ist so masslos infam und verdorben, dass es niemals berechtigt sein kann, einen solchen Krieg zu beginnen.“

Ich habe mit Bedacht so betont. Einmal ist von dem Krieg die Rede, von jedem Krieg, dann von einem solchen Krieg, sprich: von Hitlers Aggressions- und Vernichtungskrieg. Hierzulande ist die Rede von dem Krieg, ohne alle Unterschiede, weit verbreitet, und zwar weit über friedensbewegte Kreise hinaus. So lautet Artikel 69 der Hessischen Verfassung:

„Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Der Krieg ist geächtet.

Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, einen Krieg vorzubereiten, ist verfassungswidrig.“

Die Hessische Verfassung war die erste, mit amerikanischer Hilfe ausgearbeitet und im Dezember 1946 in einer Volksabstimmung angenommen. Vor einigen Jahren hat man einiges geändert, z.B. die Todesstrafe rausgestrichen und das Wahlalter gesenkt. Interessanter Weise wurde aber dieser Artikel unverändert beibehalten. Das ist symptomatisch, denn Krieg ist eben nicht gleich Krieg! Ob Russland die Ukraine überfällt oder ob die Ukrainer gegen diesen Angriff von ihrem in der UN-Charta verbrieften Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen und sich heroisch zur Wehr setzen – das ist nicht dasselbe, sondern ein Unterschied ums Ganze. Nach unserem Art. 69 wäre Landesverteidigung „verfassungswidrig“. Das kann nicht sein. Es ist allerhöchste Zeit, dass wir über Pazifismus, Frieden und Krieg neu nachdenken…

 

6. Heinrich Böll setzte sich schon früh mit den autoritären Verhältnissen in Polen und der Sowjetunion auseinander und engagierte sich beherzt für die Menschenrechte. 1974 hat er den dissidenten sowjetischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn in seinem Haus aufgenommen, 6 Jahre später den Schriftsteller Lew Kopelew. Bölls pazifistisches Engagement hat die Freiheit nicht dem Frieden nachgeordnet – anders als manche Sozialdemokraten seinerzeit, ich erinnere an Helmut Schmidt, der gesagt hat, man lasse sich doch von Solidarność nicht die Entspannungspolitik kaputtmachen. Die polnische Gewerkschaft Solidarność hat Böll dafür mit einer Dankbarkeitsmedaille ausgezeichnet. Frieden und Freiheit stehen in einem nicht immer einfachen Spannungsverhältnis zueinander. Auch das ist brandaktuell…

 

Ich komme zum Schluss: Das Motto, das in Ihrer Schule gross geschrieben wird, lautet: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“. Das gefällt mir gut und ich hoffe sehr, dass es viele von Ihnen beherzigen. Über Heinrich Bölls „zeitgeschichtlichen Weitblick“ mag man streiten. Wer sich einmischt, ist vor Irrtümern und Fehlern nicht gefeit. Aber das scheint mir allemal besser, um es zu wiederholen, als der leider weit verbreitete Ellbogen-Egoismus und die Gleichgültigkeit, die meint, man müsse sich nicht scheren um das eigene Gemeinwesen und sein Gemeinwohl, um Kriege und Elend in der Welt und um die Zerstörung unseres Planeten. Deshalb ist Heinrich Böll für mich noch immer ein Vorbild – und der Grund, warum ich bei der Stiftung arbeite.

Am 23. Mai 2022 entschied die russische Staatsanwaltschaft, die Heinrich-Böll-Stiftung sei „eine Gefahr für die verfassungsmässige Ordnung der Russischen Föderation“. Das sagt im Grunde alles: eine Gefahr für die repressive Autokratie. Sie können stolz sein auf den Namensgeber Ihrer Schule und ich wünsche, dass viele Schülerinnen und Schüler das Motto befolgen: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“…

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

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